Der rote Vorhang

Die letzte Vorstellung lag jetzt schon Monate zurück. Alles war dicht, über der Stadt lag eine lähmende Totenruhe. Der Vorhang war gefallen und alles, was bisher passiert war in der Geschichte, war als Kapitel abgeschlossen. Zwischen den Zeiten warteten die Leute auf den billigen Plätzen darauf, was als nächstes passieren würde, doch sie hatten keinen Schimmer. Sie waren auf Eis gestellt, im Ungewissen, stocherten im Nebel, ihr Leben war das verlängerte Durchgangszimmer, bei dem die Illusion die Tür immer wieder nach hinten verschob in dem Moment, in dem man sie zu erreichen wähnte. Die neue Welt war im Umbau und sie war noch nicht fertig, denn ihre Baumeister hinter den Kulissen stritten sich über wichtige Details. All das schien die passiven Zuschauer nicht zu kümmern, solange sie wieder ihr Spektakel zu sehen bekamen und sich nicht weiter um ihre Belange kümmern mussten. Aber immer mehr Sitze waren leer, und die Luft im Theater wurde langsam dünn. Vor dem Theater versammelten sich Aufgestandene mit selbstgebastelten Schildern, auf denen sie „Mitbestimmung“, „Demokratie“ und „Freiheit“ forderten, aber sie wurden immer wieder vom Sicherheitsdienst des Theaters vertrieben. Ich stand etwas abseits von dem Geschehen und verglich ständig das Gesehene mit den neu eingeblendeten Berichten des Großen Bruders auf meinem Schlauen-Fernsprechapparat. „Vaterlandsverräter gefährden die Volksgesundheit“, „subversive Elemente untergraben den Ruf unseres hochangesehenen Theaters“, „das widerliche Pack“ und ähnliche Kommentare erzeugten in mir eine merkwürdige Blase, die sich über meine Augen schob und ich konnte das Geschehen nur noch verschwommen erkennen. Leider ließ sich das Schlauphone nie abstellen, und neuerdings konnte man die meisten Dinge nur noch damit bezahlen. Vielleicht auch ein Grund, warum die meisten der Demonstrierenden so ärmlich aussahen. Viele zogen mit gesenktem Kopf und etlichen blauen Augen vom Platz. Die Kameras nahmen alles auf und blendeten auf großen Fernsehbildschirmen in den Straßen und Bahnen die Köpfe der Unzufriedenen ein. „Das ist einer der schädlichen Querköpfe. Er ist dafür verantwortlich, dass sie auf die Wiederaufnahme der Vorstellung noch lange warten müssen.“ Eine große Wut stieg in mir hoch. Zwar konnte ich auch nicht mehr in das Theater zurück, aber mit solchen Menschen wollte ich nun wirklich nichts zu tun haben. Ich bin doch kein Volksverräter. Darum setzte ich mich auf die Parkbank und meditierte eine Weile …

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