Flügel der Nacht

Die große Tür war versperrt. Das Haus, in dem ich wohnte und das in eine unüberschaubare Anzahl von Zimmern aufgeteilt war, die ich mit Erinnerungen und Wissen vollgestopft hatte, atmete schwer und trug die Last meines Daseins in trauriger Geduld. Ich hatte mich selbst eingesperrt und den Schlüssel in einer trunkenen Nacht irgendwo in meinen tausenden Schubladen, auf meinen zahllosen Schränken oder in irgendwelchen Nischen abgelegt und nie wieder gefunden seitdem irre ich umher über die Flure, suche, finde nichts außer dem Altbestand meiner verschlossenen Seele.

Ich will hier raus.

Süße Stunden verbrachte ich in diesem Haus. Damals lud ich Gäste ein und verbrachte viele süße Stunden in den verschiedenen Zimmern, spielte mit meinen Freunden im Garten oder machte Ausflüge mit dem Automobil.

Das war einmal und ich weiß selber nicht, wie es passieren konnte. Anfangs telefonierten wir noch, ich und die anderen. Auch sie waren allein und zuhaus und sperrten sich ein, weil es hieß, draußen treibe ein Ungeheuer sein Unwesen, eine Art Lovecraft´ches Monster mit vielen Tentakeln. Wir waren sicherer daheim, wir warteten, bis jemand anrufen würde, um zu sagen, der Spuk ist vorbei. Aber niemand rief an und keiner besuchte mich mehr. Ich vergaß die Zeit.

Meine Fäuste hämmerten gegen die verschlossene Tür. „Lasst mich hier raus“, schrie ich. Immer wieder. Bis ich erschöpft vor der Schwelle niedersank und einschlief. Im Traum erschien mir ein Engel. Hoch wie ein Turm ragte er vor mir auf und seine leuchtende Hand ergriff meinen Körper und hob mich nach oben in das Turmzimmer meines Hauses. Ein nasser Lappen, der auf den Dielen auslief, war ich, ich traute mich nicht, in die Augen des leuchtenden Wesens zu schauen. Sein Blick lag auf meinem Rücken. Er brannte. Der Eisenring um mein Herz schmolz und das flüssige Metall floss durch meine Adern, aus meinen Seiten brachen feingliedrige Flügel hervor, die in einem sanften Violettton schimmerten. „Du bist dein eigener Gefangener. Du bist dein Schlüssel“, sprach er und löste sich in glitzernden Umrissen auf. Allein war ich. Mein Körper lag gerade noch willensschwach auf dem Boden, meine Flügel zuckten, ein Ruck und ich richtete mich in der mühelosesten Weise auf wie eine gedrückte Feder von allein in ihre optimale Form zurückkehrt – über die kleine Wendeltreppe konnte ich auf die kleine Dachempore steigen, die Sterne sind meine Zeugen, ich habe Flügel und ich werde sie benutzen, denn sie sind nicht nur Zierde und verkümmern, wenn ich sie nie benutze. „Also spring!“, sprach die Wolke und mein Herz und das tat ich. Der Luftwiderstand unter meinen Flügeln hob mich nach oben und ich erkundete das Land und was von früher noch vorhanden war.

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