Der Fluglehrer

Die ersten Schritte eines Kindes an der Hand der Mutter sind unsicher, wackelig und plumps, wobei es glücklicherweise ins Gras fällt. Gehversuche. Doch die Mutter hilft ihm auf und der Vater steht am anderen Ende, spricht dem Kind Mut zu. Die höheren Mächte, die Eltern, bilden einen schützenden Rahmen, solange es noch nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Ziel dieser Hilfe ist es, überflüssig zu werden, sodass das Kind nach etlichen Nachahmungen des elterlichen Ganges zur Selbstständigkeit erzogen wird: Zum Selbst-Stand. Wäre es hier schon im Stande, alles Weitere alleine zu erlernen, wäre das Wort Lehrer nie entstanden. Dieses Bild ist eine perfekte Metapher und lässt sich auf jede andere Situation übertragen. Was Wenige wissen: Ich bin auch ein Lehrer, aber mein Honorar kann man bis jetzt nur in Traumtalern bezahlen, oder sagen wir in Sterntalern, um noch etwas märchenhafter zu klingen. Ich bin Fluglehrer und verlange eine freiwillige Spende von 50 Sterntalern pro Stunde. Dafür könnt ihr mit mir zu den Sternen fliegen! Und im Land der Träume dauert eine Stunde eine halbe Ewigkeit.

Seit ich denken träumen konnte, flog ich. Das Fliegen war mir in den ersten Nächten ungeheuerlich.

Ich ließ mich nach hinten fallen und schwups schwebte ich einen halben Meter liegend über dem Boden. Eine Aufregung durchzitterte meinen Körper, als ich langsam höher stieg, ausgelöst durch einen kurzen Gedanken, ein Piktogramm: ^

In hohen Bögen durchmaß ich auf und ab hunderte Meilen meiner eigentümlichen Traumwelt. Angst bekam ich, als ich einmal immer höher stieg und das Gefühl der Kontrolle verlor, zu entscheiden, wieder hinunter zu kommen. Höher, weiter, ich wähnte mich im kalten All verloren und wachte auf. Diese Angst lähmt bei vielen Träumern frühzeitig die Flugkünste und so beschloss ich als Zehnjähriger, Fluglehrer zu werden.

Meine größte Lehrmeisterin auf diesem Weg war die Erfahrung, die mich lehrte, aus allen Wolken zu fallen, aufzustehen – und wieder abzuheben. Im Eigenversuch lernte ich unterschiedlichste Start- und Flugmethoden und erkundete manche Steilküste, Eiswüsten und Stadtschluchten von Dreamopolis.

In die Luft kommen und dort bleiben war die erste Übung, die ich bestehen musste. Ich experimentierte herum: Sich nach hinten fallen lassen war die einfachste Methode, hatte aber den Nachteil, dass man im Liegen kaum über die Landschaft blicken konnte. So kam ich auf das sich hoch strampeln, wobei man wie ein Radler seine Beine abstrampelt und so Flugenergie bekommt, die einen nach oben treibt. Nachteil hier: Sobald man aufhört, zu treten, fällt man wieder runter, und das erzeugt eine leichte Panik, weil ein Restzweifel sagt, es könnte doch kein Traum sein. Der Vorteil lag aber bei dieser meiner Lieblingsflugart auf der Hand: Sie war die exakteste Methode, um geheime Nischen und Gänge an Steilhängen und in schräg hängenden Gebäudetunneln zu erreichen. Ich konnte genau abschätzen, wie stark und oft ich treten musste, um auf das Dach zu kommen, wo der gefährliche Endgegner auf mich wartete.

Am spaßigsten fand ich die Wirbelmethode, wobei der Punkt unter den Füßen einen Fixpunkt bildet, um den man sich schleunigst herumwirbelt, aufwirbelt und als Wirbel um jedes Tisch- und Stuhlbein wirbeln kann.

Mir wird ganz schwindlig, ihnen auch? Na, dann habe ich noch einen kleinen Einwurf für sie. Ich legte den Stift zur Seite und unterbrach die Arbeit an diesem Text, schaltete RBB-Kulturradio ein, und in der gerade beginnenden Sendung war das Thema: Klar träumen1. Der erste Satz, den ich in meiner Pause aus dem Radio hörte, war: „Das einzige, was ich will im Klartraum ist fliegen … Jetzt steig ich in die Luft.“ Alles klar? Bei mir nicht. Denn eine Flugart hatte ich entdeckt, die mich völlig ratlos aufwachen ließ. Ich schaute zu den Sternen und beschloss eine Rakete zu werden. Mein Hintern glühte und innerlich zählte ich von 10 abwärts, bis ich losbrauste. Die Sterne kamen näher, sie rauschten an mir vorbei wie an der Enterprice mit Hyperlichtgeschwindigkeit und ich erreichte den zentralen Nullpunkt des Universums, wo alles still stand. „Ich will zurück“ schrie ich laut, und im Eiltempo kam ein roter Punkt auf mich zu, der sich als unsere glühende Erde zeigte. Ich sah im Zeitraffer das Entstehen der Ozeane, Pangäa, das Auseinander-Triften der Platten, bis mir ein Mikrowellen Bing ankündigte, das die Erde fertig ist und ich in sie hinein springen könne. Mit Kopfsprung landete ich sicher inmitten des Indischen Ozeans.

Absturz und Verloren im All sind die beiden Angstpole, zwischen denen ein erfolgreicher Flug stattfindet, und beiden müsst ihr irgendwann in die Augen schauen, wenn ihr bei mir lernen wollt. Zum Abschluss bekommt ihr nach allen Prüfungen, Parkourflügen und Abstürzen mein Flugzeichen überreicht, das ihr euch an eure stolze, anschwellende Brust stecken könnt, aber bitte nicht gleich abheben. Meine ehemalige Nachbarin träumte von mir, wie ich ihre Hände hielt, während ihre Beine schon oben in der Luft schwebten und ich ihr Mut machen sollte. Los zu lassen. Guten Flug!

1RBB-Kulturradio, 8.7.2014, 14:10.