Kapitel 2

Sie sahen sich wieder. Der gleiche Traum? Die selben Gesichter, ungläubiges Starren, verdutzte Mienen. Da waren wieder diese Fremden. Das fahle Licht über ihnen warf einen Kegel auf den grauen Teppich. Eine Wiederholung, nicht ganz: Etwas hatte sich verändert. Der Lichtkreis war größer, und wo sie beim letzten Mal die Wände vermuteten, verschwand der Teppich abermals in der Dunkelheit. Neugier. Anton sagte … „Hallo“.

Das kurze Wort hallte durch den geheimnisvollen Raum. Hallo!

Hallo? Wurde das Wort dieser Situation gerecht war? Anton schämte sich. Hätte er doch nicht zu früh seine Stimme erhoben, um wieder allen zu zeigen, wie mutig er ist. Oder war es nur die Scham über das Schweigen, die er überwinden wollte, in dem er h-
„Hallo“, antwortete Fatima. Sie wusste auch nicht, ob es angebracht war, etwas zu sagen. Ob es sich schickte – und wer das hier kontrollierte. Das hier. Was?
„Hallo ist gut“, bekräftige Linnh, „was sollen wir sonst sagen?“ und erschrak, wie freimütig sie das sagte und dass es jeder verstand.
José nickte. „Hallo.“
Christopher und Maria zögerten.  Ihr Hallo flüsterten sie, beide erleichtert, dass es ihnen, synchron, über die Lippen kam. Sie blickten sich verwundert an. Die anderen lachten darüber. In diesem Moment zitterte der  Boden und das Licht, heller werdend, breitete sich wieder einige Meter in dem unbekannten Raume aus … .

Sie erzählten sich viel, ohne sich über die merkwürdigen Umstände zu wundern. Der Traum, den sie träumten, dämpfte den Zweifel über die Echtheit ihres Erlebens. Sie waren hier und es war gut, neue Freunde zu haben. Waren sie in ihrem alltäglichen Leben eingeengt von den Zwängen ihrer Umgebung, fühlten sie sich hier eigentümlich frei ohne zu wissen, was sie mit dieser Freiheit anfangen könnten. Und Fatima fragte nach einiger Zeit, ob die anderen ein Spiel spielen wollen. „Und welches?“, fragte Anton.
„Die Piñata zu schlagen macht mir immer Spaß.“
„Wir könnten das Lampionspiel spielen.“
„Fang den Stock“.
„Mit Murmeln“.
„Verstecke“ („wo denn, im Dunkeln?“).
„Himmel und Hölle“, wo ist die Kreide?
„Ich packe in meinen Koffer“, sagte Christopher.

Der Vorschlag wurde angenommen.
„Ich liebe dieses Spiel, es überrascht mich immer, wie viele Dinge man aufzählen kann“, sagte Anton.
José wurde über diese Worte traurig. Was konnte er aufzählen? Seinen Minenhelm?
Ich-packe-in-meinen-Koffer, das Kinderspiel, bei dem ein imaginärer Koffer gepackt wird. Jeder nennt einen Gegenstand, der in den Koffer soll, nachdem die vorher genannten Gegenstände in der richtigen Reihenfolge aufgezählt wurden.
Wo geht die Reise hin?

„Ich packe in meinen Kof-ff-ff“, begann Christopher, schaute sich in der Runde um, während er das F weiter zwischen seinen Lippen schliff. Er konnte sich nicht entscheiden. Das Licht f-ff-f-fff vibrierte in dieser Spannung, wie eine unruhige Diskokugel.
„Ja?“, fragte Maria.
„f-ff-f-f—Koffer! –––– ?“
„Ein Fahrrad“, flüsterte er. Im Hintergrund blitzte für den Bruchteil einer Sekunde etwas Silbernes auf.
„Ich packe in meinen Koffer,“ Anton zögerte – „ein Fahrrad und ein Kartenhaus.“
Eine Karte flog ihm um die Ohren und sauste über ihre Köpfe hinweg. Es schwankte in Anton, zwischen ihm und seinen neuen Freunden tat sich ein Abgrund auf. War er noch unüberwindlich? Er spürte die Trennung und wollte in die Dunkelheit laufen.
„Ich packe in meinen Koffer ein Fahrrad, ein Kartenhaus und eine Jadefigur“.
Linnh spielte gerne mit kleinen Figuren, aus Holz oder Stein, sie besaß eine kleine Sammlung mit Helden aus der Reise nach Westen und andere Götter- und Sagengestalten. Sie mochte das Äffchen. „Das wünsch ich mir jetzt her.“ Was hat da kurz gebrüllt?
„…ein Palmenblatt.“ Fatima liebte Inseln, dort konnte sie allein sein, weg von all den Menschen mit ihrem Lärm. Ein freier Vogel oder so etwas. Sie wollte weg. Der Hauch wehte sie von der Seite an.
„…ein Kletterbaum.“ Maria wollte hoch hinauf, aber nicht so, wie ihre Eltern es vorgesehen hatten. Sie liebte die Höhe. Ein leichter Schwindel überkam sie, ein Knirschen, ein Knarren von irgendwoher.
José war am Zug, er überlegte lang, er besaß eigentlich nur einen kleinen Hausrat und wusste nicht, was er auf die Reise mitnehmen sollte. Er verstand noch nicht ganz, dass die Reiseutensilien  dieses Spiels nicht so sehr dem entsprachen, was man hatte und real mitnehmen konnte, sondern sich wünschte, und so ließ er sich Zeit beim Aufzählen, „Fahr-rad, Kar —- ten ———-haus“, bis ihm ein alter Traum einfiel. Er war ein Wanderer mit einem herrlichen Ebenholzstab und verließ sein Dorf.
„Einen Wanderstab!“

Die erste Runde war abgeschlossen. Spielend leicht war es nicht, etwas auszudrücken. Es war, als hätten sie die Dinge, die sie aufzählten, aus ihren Körpern gepresst, obgleich es nur gesagte Worte waren. Wie Steine, eine Last war von ihnen abgefallen und stand jetzt metaphorisch im Raum. Um sie herum spannte sich der lichte Bannkreis, der sie von der Dunkelheit trennte. Christopher läutete die zweite Runde ein, indem er ein Glöckchen in den Koffer packte. Diesmal hörten es alle, sie wurden hellhörig.

Das Glöckchen lockte ins Dunkle.

„Ich packe in meinen Koffer ein Fahrrad, ein Kartenhaus, … ein Glöckchen und   … eine Überraschung!“ Die ist ihm wohl gelungen. Keiner wusste, worin diese Überraschung bestand, auch Anton nicht, der sich mit geheimnisvoller Miene zurücklehnte. Die Sache wurde interessant. Fatima ließ keinen Zweifel, was sie davon hielt.
„Ich packe in meinen Koffer … einen unüberwindlichen Bergpass.“
„Ist ein Pass nicht dafür da, etwas zu überwinden?“, fragte Linnh, die sich ihrerseits die Freude beim Spiel in den Koffer wünschte. „…FAST unüberwindlich“.
José wurde ungeduldig, denn er begriff langsam, dass es Zeit war,  aufzubrechen.
Die Dunkelheit hatte längst ihren Schrecken für José verloren. Er war oft genug in die Dunkelheit des Bergwerks hinab gestiegen. „Ich packe in meinen Koffer … MEINE GRUBENLAMPE!“
Das Licht ging aus, zog sich blitzschnell zusammen – die Gruppe wurde in Dunkelheit getaucht – und taumelte als kleiner Glühpunkt hinunter, vor Josés Nase, weiter hinab in die blecherne Lampe hinein, die er auf einmal in den Händen hielt und hin und her schwenkte. Sie verteilte das Licht in Salven über den schummrigen Teppich. „Folgt mir!“

Die Jugendlichen, dicht hinter José gedrängt, machten ihre ersten Schritte in das unbekannte Terrain hinein, sie kamen nur langsam voran und hatten einen Sichtkreis von weniger als einem Meter. Das reichte, um ihre Füße zu sehen und den Rücken des Vordermannes, die Letzte in der Reihe war Maria. Sie hatte Angst, denn sie hörte es wieder Knarren. Und das Glöckchen bimmelte wieder – eigentlich hatte es nicht aufgehört, zu läuten, seit Christopher es in den Koffer packte. „Wohin folgen wir dir?“, fragte Fatima. „Wir folgen dem Glockenklang“, sagte er etwas forsch, die anderen hatten es nicht begriffen, es war so offensichtlich. Das Glöckchen, das Fahrrad und das Kartenhaus. Der Baum. Alles. Hier.
„ICH PACKE IN MEINEN KOFFER EINE STRASSENLATERNE!“

Ein dumpfer Knall. José stürzte zu Boden.