„Wir hatten uns auf das Du geeinigt“

 

Etwas aus dem Leben greifen ist eine literarische Operation, bei der ein Stück aus dem lebendigen Leib des kontinuierlichen Lebens herausgeschnitten wird. Abgrenzen, isolieren, herausnehmen, bearbeiten. Der Leib der Erinnerung, dessen Torso im Dunklen der Vergangenheit verschwindet. Wo war ich stehen geblieben? U-Bahnhof Rüdesheimer Platz, ich begegnete Anne, meiner Dozentin im Radio-Seminar. Wir tranken kurzerhand einen Kaffee und einigten uns auf das Du, draußen vor der Bäckerei waren die Stühle zur Straße hin ausgerichtet, wir beobachteten den vorbeifließenden Verkehr, während wir weiter über Träume redeten, unser Lieblingsthema. Manche Menschen erinnern sich nicht gern an ihre Träume. Warum eigentlich? „Ich kann das nicht nachvollziehen, für mich sind sie eine große Bereicherung, wie eine Erweiterung meines Alltags, mehr Raum.“ Einer der Vorteile als Student oder als Selbstständiger ist es, dass man mehr Zeit hat, Menschen in seiner Nachbarschaft besser kennenzulernen, ihre Namen, Berufe, Leiden und Freuden. „Ich bin auch so ein bunter Hund“, sagte ich und schlürfte den Zuckersiruprest meines Kaffees. Wir hatten uns auf das Du geeinigt und gingen auseinander, mein Hinterkopf klopfte und erinnerte mich, dass ich ihr noch ein Manuskript für einen Radiobeitrag schicken muss, das Du!

Es gibt für mich eine Du-Welt der direkten Begegnungen, unabhängig von Status, Hierarchie und Stellung, die freie Welt, wo alle Masken fallen und das authentische Selbst hervorkommen darf. Und es gibt die Sie-Welt, die Lehrerin spreche ich immer mit Sie an, ältere Menschen spontan immer mit Sie, bis ich sie besser kennenlerne. Eine Erziehungssache, die ich nicht so leicht abstellen kann, ganz egal, ob die betreffende Person besonders Wert darauf legt. An der Uni hat sich das nicht geändert, vielleicht der Grund, warum ich nie zu jenen gehörte, die mit den Professoren in der Mensa sitzen und bei Kaffee und Kuchen über Privates reden.

Meine Radiosendung handelt von der Todesangst, wofür ich mich am Freitag mit der Geschäftsführerin eines Hospizes für ein Interview traf. Nach dem Gespräch fiel ich am Nachmittag in ein Loch, weil ich nicht mit der Arbeit anfangen wollte. Angst vor dem weißen Blatt.

Ich hörte mir das Interview noch einmal an, notierte einzelne Stichpunkte ihrer Antworten und verglich sie mit meinen Fragen, spontan entschied ich mich für einige Abschnitte aus dem halbstündigen Interview und setzte sie am nächsten Morgen zu einem braven Frage- und Antwortspiel zusammen. Ohne das Manuskript noch einmal zu bearbeiten, schickte ich es an Frau T. So, Kopf frei für andere Projekte. Wir besuchten am Sonntag den Hamburger Bahnhof, in der Sonderausstellung in der großen Haupthalle liefen psychedelische Filme auf großen Leinwänden in Dauerschleife.[1] The demons brain (so der Name der Ausstellung!). In einer Sequenz läuft man ewig durch einen hölzernen Bergwerksschacht, begegnet immer wieder okkulten Symbolen und kitschigen dreidimensionalen Objekten, einer blaue Blume, es fühlt sich an, als wäre man auf ewig verdonnert, in einem Labyrinth umherzulaufen und Dinge einzusammeln, warum denke ich gerade an Pac man? Minecraft? Super Mario?

(Das Leben im kapitalistischen Alltag … ). Wo waren wir stehen geblieben?

(Irgendwann in der Kindheit). Meine Freundin bestellte Chicken wings, ich einen Burger, aus der Küche drangen einzelne Flüche in den Gastraum, Macha unterhielt sich mit ihrer besten Freundin auf Französisch, um mir die Wartezeit zu verkürzen, schaute ich meine Mails auf dem Smartphone an. Frau T. schrieb mir.

 

Hallo Arne,

 

ich hatte irgendwie mit was anderem von dir gerechnet. Es ist so brav stringent durcherzählt und sehr sachlich informativ. Ich würde mich total freuen, wenn du es grundsätzlich überarbeitest. Mach etwas Collagenhafteres draus. Assoziativer, stimmungsvoller, emotionaler, gehaltvoller. Schneller, bildhafter. Das soll doch kein Info-Beitrag über das Hospiz sein. Es geht um Tod und die Angst davor und darum, wie in dem Hospiz ein Weg gesucht wird, die Angst zu mildern. Ich bin sicher, dass das du das kannst. 

 

Viele Grüße

Anne

 

 

Anne würde sich total freuen, wenn ich es nochmal überarbeite … ich hörte, wie sich die träge Wassermühle meiner Gedanken zu drehen begann. Ich schrieb ihr, dass ich mich sofort an die Arbeit machen werde … aber ich habe Angst, dann nicht respektvoll genug mit dem Material des Interviews umzugehen und vielleicht meine Interviewpartnerin zu verärgern … sie antwortete nur:

 

 Das kriegst du hin!

 

Dieser kurze Satz wirkte wie ein Wundermittel, ich löste ihn auf zu einem magischen Pulver, das ich in meinem Hexenkessel warf und zusammen mit ausgesuchten Kräutern zu einem grün leuchtenden Sud zusammen kochte, den ich in eine Glasflasche mit der Aufschrift Hinkriegen abfüllte und mir selbst am Schreibtisch servierte, voila und Prost.

Es gab ja eine Vorlage, ich stand nicht ohne alles da.

Plötzlich ergaben sich neue Möglichkeiten, ich erinnerte mich nämlich an die schlimmste Nacht meines Lebens, in der mir meine Mutter aus Alibaba und die 40 Räuber vorgelesen hatte und abbrechen musste, nachdem sein Bruder gevierteilt wurde, er war tot, wie, er war tot? Was ist tot? Da hört man auf, zu existieren! Es war ein totaler Schock für mich, dass wir „aufhören“, es ist bis heute der schlimmste Gedanke für mich, den es gibt, dass die Existenz erlischt (was ich im übrigen nicht mehr glaube, das Leben geht weiter … 😊) und ich konnte nicht schlafen, ich hatte panische Angst, nicht mehr aufzuwachen, weinte, atmete kurz, ich war, glaube ich, erst 7 Jahre alt … bis heute kann ich Menschen nicht verstehen, die diesen Gedanken einfach so akzeptieren, dass ihr Bewusstsein in einem Moment aufhört. Ich liebe das Leben, ich habe es so unendlich gern und bin dankbar, Momente der reinen Liebe für die Fülle des Lebens in meinem Herzen gespürt zu haben, die mein Bewusstsein transzendierten. In diesem Momenten verlor ich die Angst vor dem Tod, denn unsere Liebe, der Motor unseres Bewusstseins, ist nicht an Körper und Zeit gebunden, jedenfalls ist das meine Überzeugung aus Erfahrung, ganz unabhängig von Religion! … das Manuskript wurde flüssiger … geschmeidiger, schneller, assoziativer …. eine merkwürdige Erfahrung, zu erkennen, wie sich Texte verbessern, wenn man sie ein zweites und ein drittes mal angeht, bis sich das Gefühl einstellt, jetzt fließt es, der Moment, wenn ich jedes unnötige Stück entfernt habe und mich der Text vom ersten bis zum letzten Wort nicht mehr loslässt … Ich schickte Frau T. das überarbeitete Manuskript, Sehr geehrte Frau T.,

 

hier nochmal eine überarbeitete Version. Ich bin damit auf jeden Fall zufriedener und hoffe damit, auch ihren Ansprüchen gerecht zu werden 🙂 Ihre Rückmeldung hat bei mir auf jeden Fall etwas frei gesetzt, den Anspruch, eine Sache gut zu machen und sich noch einmal daran zusetzen und etwas zu überarbeiten. Von meiner Seite wollte ich auf jedenfall noch einen Teil des Beitrages nur dem Hospiz widmen, wenn auch skizzenhafter.  

Bis morgen. 

 

Herzlich,

 

Ihr Arne Schmelzer.

 

Sehr geehrter Herr Schmelzer,

waren wir nicht beim Kaffee zum Du übergegangen? Wir können, wenn Ihnen das lieber ist, auch gern wieder zum Sie zurückkehren.

Den Beitrag finde ich so viel besser! Schön. Über kleine Änderungen können wir morgen sprechen.

Bis dahin viel Grüße

Anne Teschke

 

Ach ja! Wir hatten uns ja auf das Du geeinigt. Sie-Welt oder Du-Welt?

 

 Klar, Anne, wir können gerne beim Du bleiben 🙂

 

In der folgenden Nacht hatte ich wieder sehr merkwürdige Träume. Ich war auf dem Jahrmarkt, den ich schon seit Jahren öfter besuche und der ein fester Traumort zu sein scheint. ES GIBT ACHTERBAHNEN, YAEH. Aber es ist auch immer Nacht hier. Unheimlich, der alte Mann aus den 3-D-Simulatoren, der mit den weißen Haaren und den schmuddeligen Klamotten[2], stellte die Weichen meiner Achterbahn um, ich sauste hinab auf der Horrorstrecke,  ha ha ha ha ha ha lachte er dreckig hinterher. Aber ich blieb stehen, und aus mir löste sich Super Mario heraus und raste auf und ab und davon, wo war ich stehen geblieben? Wo habe ich die Weiche umgestellt? WO bin ich jetzt? Im Flur von Annes Wohnung. Sie hatte mich eingeladen, ich schaue mir die wertvollen Stücke ihrer Sammlung an, aus der Küche dringen die Stimmen ihrer Kinder, die sich gerade über die Träume der vergangenen Nacht unterhalten.

An der Wand hängt ein gefärbter Pelzmantel, nebst einem Speer. Scheint ein Überbleibsel einer ethnologischen Expedition zu sein. Zwischen den Schilfhalmen schleiche ich auf der Suche nach Beute, meine Füße von Wasser bedeckt. Ich stehe still. Meine Augen fixieren die Beute. Jetzt. Der Speer surrt durch die Luft und verfehlt sein Ziel, der große Kranich fliegt davon … wir haben uns auf das Du geeinigt.

[1] https://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hamburger-bahnhof/ausstellungen/detail/agnieszka-polska-the-demons-brain.html

[2] https://www.youtube.com/watch?v=b7aMmrUdPlY Devils mine simulator